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Im Jahre 1900 wurde meine Großmutter Auguste als jüngstes von vier Kindern geboren. Zwei ihrer Geschwister starben früh an Diphtherie, übrig blieben Auguste und ihre wesentlich ältere Schwester Klara. Ob man  um 1900, um 1800 oder um 1700 in Klanin bei Putzig in der Kaschubei aufwuchs machte keinen großen Unterschied. Augustes Eltern standen in Diensten derer von Grass, oder um es deutlicher zu sagen: Seit Generationen waren die Steinkes für das Wohl und Wehe der Schweinezucht derer von Grass verantwortlich.

Es ging ihnen nicht schlecht. Man tat, was die Herrschaft anordnete und kümmerte sich ansonsten um die eigene Parzelle. Klanin war um die Jahrhundertwende (wie auch später um die Jahrtausendwende)nur eine Reihe von Häuschen mit jeweils einem Koben  und einem kleinen Feld entlang einem je nach Wetter staubigen oder schlammigen Feldweg.

Auguste wusste schon früh, dass dies nicht ihr Leben sein würde. Ihre Mutter, Berta Steinke war das Urbild einer Kaschubin. Sie war groß, breit, rotgesichtig, eine derbe Frau im schwarzen Kaschubenrock, die nie gelernt hatte, ihren Namen zu schreiben. Jedes Jahr, wenn die Schweine zusammengetrieben wurden und sie für jedes aufgezogene Tier einen Gulden entgegennehmen durfte, quittierte sie dies mit drei Kreuzen. Das war genug, mehr wurde nicht benötigt, mehr war auch nicht erwünscht. Julius und Berta Steinke hatten eine große blecherne Milchkanne. Als Auguste sechzehn geworden war, war die Milchkanne prall gefüllt mit Goldschimmernden  Gulden. Ein kleines Vermögen.

Es war eine seltsame, unwirkliche Zeit. Die jungen Männer ließen sich begeistert in Uniformen stecken und stiegen singend und Säbel schwingend in Züge, die sie ihrer Vernichtung entgegen transportierten. Die jungen Mädchen blieben daheim, wartend. Auguste, ebenso verblendet und mitgerissen wie so viele andere, überredete ihre Eltern diesen Krieg auf ihre bescheidene Weise zu unterstützen. Die Milchkanne voller Gulden wurde in Kriegsanleihen eingetauscht, das kleine Vermögen im Kugelhagel Frankreichs ausgelöscht.

Drei Jahre später waren die jungen Männer tot, die Mädchen vergeblich auf der Suche nach Partnern. Auguste war zu diesem Zeitpunkt schon Tante. Ihre Schwester Klara machte alles richtig. Liebevoll war sie und mütterlich. Fünf Kinder bekam sie und alle blieben auf Generationen mit Klanin und dem Gut verbunden. Auguste wurde es zu eng. Die wunderschöne Kaschubei mit den endlosen Alleen, Seen und Wäldern bis zu den weißen Ostseestränden hatten keinen Reiz für sie. 

Mit achtzehn verließ Auguste die kleine Welt an der Ostsee und zog nach Danzig. Doch welche Möglichkeiten hatte ein junges Mädchen aus einfachen Verhältnissen? Freiheit etwa? Auguste wurde Dienstmädchen. Sie war schön, eine herbe Schönheit, wie mein Großvater zu sagen pflegte. Dunkle streng nach hinten gekämmte Haare, ein etwas harter Zug um den Mund , selten ein Lächeln. Dies war bei der Dienerschaft auch nicht erwünscht. Auguste diente bei einer jüdischen Familie. „Sie sind eine wahre Antisemitin“, warf ihr ihre Arbeitgeberin einmal vor. Nein, Antisemitin war sie nicht, würde sie auch nie werden, aber sie war ein Mensch ohne großen Respekt vor Autoritäten und daher als Dienstmädchen denkbar ungeeignet.

Irgendwann in den Dreißigern ging sie mit einer Freundin tanzen und lernte einen jungen Mann kennen. Sechs Jahre jünger war er, etwas schüchtern und irgendwie seltsam. „Ich glaube, der meint es ernst“, vertraute Auguste ihrer Freundin nach der ersten Verabredung an,  aber beim nächsten Treffen wartete Auguste umsonst .Georg Volkmann, ein junger Schiffszimmermann auf Landurlaub, hatte sie versetzt. Auguste war ein wenig verletzt, aber doch eher verwundert. „Er ist schüchtern. Ich nicht!“, mag sie gedacht haben und schrieb ihm einen Brief. Er erhielt ihn auf See, schrieb zurück und bei der nächsten Verabredung kniff er nicht. Schon einige Monate später heirateten sie und als das erste Kind unterwegs war, kündigte Auguste ihre Stellung und blieb zuhause in Danzig-Neufahrwasser, während mein Großvater Wochen und Monate auf See unterwegs war.

Wenn die Kinder krank waren ging Auguste weiter zu ihrem gewohnten Arzt, dem leeren Wartezimmer, den Schmierereien und zerbrochenen Fensterscheiben zum Trotz. „Ich lasse mir nichts vorschreiben“, sagte sie. Dann kam der Krieg endgültig nach Danzig. In der Familiengeschichte ein Blitzlichtgewitter von Bildern und Anekdoten. Gepackte Köfferchen neben dem Bett, Sirenenheulen, Bombenächte im Keller. Auguste packte ihre Kinder und flüchtete zu ihrer Verwandtschaft in die Kaschubei. Bilder vom überfüllten Bahnhof. Alles Hab und Gut in Säcke gestopft, darunter zwei Federbetten bester Qualität. Der siebenjährige Gerhard verschwindet in der Menge. Auguste ruft verzweifelt, er hört nicht, sie packt ihre Tochter, rennt hinterher, sucht ihn, findet ihn schließlich. Als sie zum Gleis zurückkehrt, ist ihr Gepäck verschwunden.

In der Kaschubei  war die Familie nicht willkommen. Der große Krieg war vorbei, der kleine ging weiter. Der Schwager nannte sie nur „die Deutsche“ und weigerte sich unter einem Dach mit ihr zu schlafen, zog stattdessen in den Koben.

Eines Morgens entdeckten sie ein junges polnisches Mädchen , das sich in einer Scheune versteckt hielt. Halb verhungert und verängstigt erzählt sie, was ihr geschehen ist. Was in den Konzentrationslagern geschehen ist. Was polnischen und jüdischen Menschen geschehen ist. Entsetzt lauschten die Erwachsenen und auch die Kinder. Es wurde ein Tag der Tränen und des Begreifens.

Georg Volkmann war verschwunden, auf See vermisst. Gerhard und Gisela sprachen mittlerweile drei Sprachen: Deutsch mit der Mutter, Kaschubisch mit dem Rest der Familie, Polnisch in der Schule. Dann die Entscheidung. Die Kaschuben können ihre Nationalität wählen. Sahen sie sich als Deutsche, mussten sie gehen. Sahen sie sich als Polen, konnten sie bleiben. Auguste packte ihre Kinder ein weiteres Mal und setzte sich in den Zug nach Westen. Ihre Eltern, ihre Schwester und deren fünf Kinder entschieden sich für die Heimat und blieben. Auguste sah ihre Familie und die Kaschubei nie wieder.

Als mein Großonkel Johann später gefragt wurde ob denn der Sozialismus schlecht für ihn gewesen sei, sagte er nach kurzer Überlegung. „Nein. Uns ging es besser. Wir waren frei.“ Und er erzählte wie sie jeden Abend die Hand der Leonie von Grass küssen mussten und wie sie ihm einmal die Peitsche über den Rücken gezogen hat als er nach vierzehn Stunden Feldarbeit auf dem Kutschbock eingenickt war.

Auguste kam mit ihren Kindern nach Schleswig-Holstein und wurden wie Millionen anderer Flüchtlinge auch  untergebracht. Der Bauer stritt sich mit meiner Großmutter und klagte über die Zwangsunterbringung auf seinem Hof, aber Auguste schaute ihn nur an und sagte: “Nicht nur wir haben den Krieg verloren. Ihr auch!“ Sie arbeitete hart und machte unfruchtbares Land zu einem guten Acker. Der Bauer nahm ihr das Land wieder weg, gab ihr ein Stück Morast. Aber auch bei der nächsten Ernte war der Acker meiner Großmutter wieder mit den dickeren Bohnen und Kartoffeln gesegnet. Die Kinder erinnerten sich an lange Sommer und Winter mit einer Unzahl unappetitlicher Bohnengerichte. Doch sie hungerten nicht.

Die Kinder gingen wieder zur Schule und wurden gehänselt. „Ihr Pollacken!“ Nach wenigen Monaten war die polnische Sprache und auch ein Großteil des Kaschubischen aus ihren Köpfen verschwunden. Die Kaschubei war weit weg. Geschichte. Madga bosca….Georg Volkmann kam wieder. Kriegsgefangenschaft. Keine große Sache. Keine Verletzung. Kein Trauma. Die Huksche , die Hausmeisterin, drangsaliert die Kinder. Es reicht. Auguste lauert ihr im Hausflur auf, schlägt ihr mit einem Stock auf die Arme. Die Kuksche kreischt. „Das ist für meine Kinder.“, ruft Auguste, und das…und das. Die Polizei kommt ins Haus. Die Kinder sind ganz still. „Haben sie Zeugen?“ fragt Auguste, und dann „Verlassen sie meine Wohnung, sofort..“ Der Polizist geht, zornesrot,. Er kommt nicht wieder.

 Dann Wiederaufbau. Die Familie zieht nach Dortmund. Bei Hoesch gibt es Arbeit. Hochofen. Die nächsten Jahrzehnte meines Großvaters sind von dieser schweren Arbeit geprägt. Er klagt nicht. Auguste kümmert sich um die Kinder und tratscht über ihre Nachbarn. Abends geht sie runter auf die Strasse und schaut hinauf zum Fenster. Die neue Stehlampe leuchtet so schön.

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